Von Randi Crott
„Man kann als Künstler doch nur dann wirklich den eigenen Weg finden, wenn man eine drängende, treibende, neidende und verherrlichende Öffentlichkeit meidet.“
Carl Baumann
Es ist das Bild eines jungen Mannes im Aufbruch: Anfang 1935 malt der 22jährige Carl Baumann in der Abgeschiedenheit der Brantenberger Mühle bei Hagen wie ein Besessener. Das halbverfallene Haus, das in den zwanziger Jahren das Vereinsheim des Arbeiter-Abstinentenbundes gewesen war, hat er sich notdürftig als Atelier hergerichtet. Er arbeitet fast rund um die Uhr und vergisst vor lauter Freude an der eigenen Kreativität das Essen. Nach einem halben Jahr ist er völlig entkräftet und unterernährt. Freunde bringen ihn erst mal ins Krankenhaus.
Die Eltern – ohnehin nicht gerade begeistert über die künstlerischen Ambitionen des Sohnes – sind beunruhigt. Denn Carl soll eigentlich das Geschäft seines Vaters, des Malermeisters Karl Baumann, übernehmen. Mit 14 hatte der junge Carl eine Maler- und Anstreicherlehre bei Fritz Heimann in Hagen begonnen, die er 1929 mit der Gesellenprüfung erfolgreich abschließt. Aber zu diesem Zeitpunkt ist schon längst jemandem das zeichnerische Talent des
Jungen aufgefallen: Gewerbelehrer August Müller-Lamberty, der später die Künstlervereinigung Hagenring mitgründen wird, gibt dem 16jährigen Carl Baumann den dringenden Rat, sein Leben nicht als Anstreicher zu verbringen.
Er empfiehlt den jungen Mann an Professor Johan Thorn Prikker, der an den Kölner Werkschulen Glas- und Wandmalerei lehrt. Thorn Prikker war 1910 ins westfälische Hagen gekommen, um sich aktiv an den künstlerischen Reformbestrebungen der Werkbund-Bewegung um den Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus, den Begründer des Folkwang-Museums, zu beteiligen. Schon wenig später erhielt der holländische Künstler zahlreiche Aufträge für Wandgemälde, Mosaike und vor allem Glasfenster.
Der tief religiöse Thorn Prikker steht bis heute für die Entwicklung der modernen Glasmalerei in Deutschland. So sind zum Beispiel die Glasfenster für die Auferstehungskirche und die Klosterkirche in Essen, die Mosaike der Essener Friedenskirche, die Fenster der romanischen Kirche St. Georg in Köln und auch die des Hagener Hauptbahnhofs sein Werk.
Ab 1931 studiert Carl Baumann drei Trimester Wandmalerei, Mosaik, Sgrafitto, Schrift- und Aktzeichnen bei Professor Thorn Prikker, der ihn in seinem Schaffen nachhaltig beeinflussen wird. Die Kölner Werkschulen sehen sich in ihrem Programm dem Werkbund-Gedanken verpflichtet und stellen die enge Verbindung von Entwurf und Ausführung, freier und angewandter Kunst, von Atelier und Werkstatt in den Vordergrund. Getreu dem Motto: „… der Kopf erfindet’s und die Hände machen’s …“
Richard Riemerschmid, der Leiter der Werkschulen, orientiert sich an den 1924 gegründeten Berliner Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst (VS), die von seinem Kollegen und Werkbund-Mitbegründer Bruno Paul geleitet werden. Als fortschrittliche Kunstakademie sind die Vereinigten Staatsschulen integrativ angelegt. Die Studenten besuchen neben einer Schwerpunkt-Abteilung (Freie oder Angewandte Kunst oder Baukunst) gemeinsame Klassen und
Werkstätten, so z.B. Zeichnen, Schrift, Anatomie, Perspektive, Malerei, Druck. Ähnlich strukturiert sind die Badische Landeskunstschule Karlsruhe und auch das Bauhaus. Das gemeinsame Ziel: Der Widerspruch zwischen Kunst und Handwerk soll überwunden werden.
Von Johan Thorn Prikker stammt der Satz „Glasmalerei ist wie mit der Sonne selbst zu malen“. Carl Baumann erinnert sich später: „Thorn Prikker hat uns beigebracht, man muss mit Glas malen, nicht auf Glas.“ Der Holländer wird sein Mentor und nach dessen Tod 1932 kehrt sein Meisterschüler Carl Baumann schwer getroffen nach Hagen zurück. Zunächst arbeitet er wieder im väterlichen Betrieb. Daneben aber ist er weiter künstlerisch tätig. Für die Wand der Berufsschule in Hagen-Haspe fertigt er in zehn wöchiger Arbeit ein eindrucksvolles Fresko von 18 Metern Länge und 4,50 Metern Höhe. In einer großen Bilderfolge stellt er (von rechts nach links) die Entwicklung des Lehrlings zum Gesellen, zum Meister und schließlich zum Künstler dar. In einem Artikel in der Dortmunder Zeitung heißt es dazu:
„Zweifellos handelt es sich hier um eine starke Arbeit eines jugendlichen Künstlers, der sich zu einer bewunderungswürdigen Selbständigkeit entwickelt hat. Dieser junge Mensch, der tagsüber in der Malerwerkstatt seines Vaters schafft, ist ein Sinnbild für die Verwurzelung volksnahen Künstlertums im Handwerk, das zu sauberer und geachteter Künstlerschaft aufstrebt. Vor allem sind die Gesetze der Wandmalerei in vollem Umfange gekonnt.“
Der Hagener Maler Helwig Pütter, damals 14 Jahre alt, läuft 15 Kilometer von Boele nach Haspe, um Carl bei dieser Wandmalerei zuzusehen. Berufsschullehrer August Müller-Lamberty hatte den ebenfalls begabten Pütter auf Carl hingewiesen: „Halt dich an den.“
Wie bei Malergesellen üblich, geht Carl Baumann auf Wanderschaft quer durch Deutschland und Italien. Nie hört er dabei auf zu zeichnen und zu malen. Sein Geld verdient er mit Wandmalereien. Aber wohin führt letztlich sein Weg? Am Ende doch zurück ins sichere Malergeschäft des Vaters? Alles in ihm wehrt sich dagegen. Längst will er etwas anderes und flüchtet 1934 in die Brantenberger Mühle.
Er zeichnet, malt, fertigt Holzschnittarbeiten und Skizzen an. Seine Arbeitswut verzehrt ihn fast. Was ihn treibt, ist das eine Ziel: Er will sich um einen Studienplatz bewerben. Bei der Hochschule in Berlin, die im Geist der Kölner Werkschulen
arbeitet. Die Aufnahmebedingungen für die Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst (VS) sind anspruchsvoll:
„Für die Aufnahme ist neben ausreichender künstlerischer Begabung und zeichnerischer Vorbildung für Architekten, Bildhauer und Maler der Nachweis einer handwerklichen Fachausbildung erforderlich. Dazu müssen Zeichnungen, Entwürfe, Modelle, Skizzenbücher usw. eingereicht werden. Die handwerkliche Ausbildung ist durch das Lehrzeugnis eines Handwerksmeisters oder einer Handwerker- oder Baugewerkeschule zu belegen. Die Entscheidung fällt schließlich aufgrund einer Aufnahmeprüfung.“
Diese Aufnahmeprüfung umfasst drei Aufgaben an je zwei Tagen: 1. Zeichnen eines gestellten Gegenstandes, 2. Lösen einer Entwurfsaufgabe, 3. Für Bildhauer: Modellieren eines Aktes. [1]
Carl Baumann reicht zunächst seine Arbeitsproben ein und wird daraufhin zur Aufnahmeprüfung eingeladen. Er besteht sie. Zum Sommersemester 1936 wird er in die Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst, die heutige Universität der Künste, aufgenommen. Carl Baumann geht nach Berlin.
Als gewünschtes Studienfach hat er „Bildhauer“ angegeben und kommt zunächst in die Bildhauer-Klasse von Professor Ludwig Gies. Ludwig Gies ist zu dem Zeitpunkt längst im Visier der Nationalsozialisten. Im April 1933 war er öffentlich als „kulturbolschewistisch“ angeprangert worden. In der Eingangshalle der Vereinigten Staatsschulen in der Hardenbergstraße haben Vertreter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes ein Transparent
aufgestellt:
„Folgende Lehrer haben sich bis vor kurzem in ihrer Betätigung als Künstler und in ihrer Lehrtätigkeit sowie in ihrem übrigen Gebaren in ihren Beziehungen und Äußerungen als typische Vertreter des zersetzenden liberalistisch-marxistisch-jüdischen Ungeistes erwiesen. Außerdem besteht bei vielen der Verdacht, dass sie jüdischer Rasse sind, was bereits sorgfältig nachgeprüft wird: Hofer, Klein, Wolfsfeld, Gies, Weiss, Reger, Schlemmer. Schüler, die der Erneuerung
deutscher Kunst und damit der Kunsterziehung auf völkischer Grundlage dienen wollen, meiden diese Lehrer!“ [3]
Am 1. Mai 1933 hatte Prof. Max Kutschmann, seit 1927 NSDAP-Mitglied, die Leitung der Hochschule übernommen. In einem Brief poltert er, „dass der Saustall nicht gründlich ausgemistet wird, wenn es nicht umgehend und schlagartig geschieht“. Und in seinem zynischen Abschiedsschreiben an Oskar Schlemmer heißt es: „Nur kurze Zeit waren Sie einer der Unsrigen. Sie hatten geglaubt, hier auf längere Sicht arbeiten zu können. Es ist anders gekommen.“ [4]
Oskar Schlemmer antwortet daraufhin im Oktober 1933: “ Ich wünsche den Vereinigten Staatsschulen, dass darin die Kräfte lebendig werden, welchen den deutschen Idealismus in der Kunst zum Siege führen. Die Hoffnung und der Glaube daran vermögen dann auch mit Ungerechtigkeiten zu versöhnen, welche mir und so vielen anderen jetzt widerfahren.“ [5]
Als Carl Baumann 1936 mit 23 Jahren in die VS kommt, wird er Zeuge des Nazi-Terrors. Die Malerin Jeane Flieser, genauso alt wie Carl Baumann, beschreibt ihre Erfahrung so:
„Unter den Studenten waren ja auch SA-und SS Leute, genauso jung wie wir, die waren fanatisch. Morgens, wenn ich kam, stellten sich diese Biester in der Halle oben an die Treppen, und es begann ein Pfeifkonzert und Geschrei: „Judensau!“ So ging das. Das war fürchterlich. Und dann rotteten sie sich unten um mich zusammen. Und einer machte einmal eine riesige Karikatur von mir, so ein böses Weib und sagte dann: ,Hier, guckt diese Judensau an!‘ Da konnte ich einfach nicht mehr hingehen. Und dann bin ich – das ist ähnlich wie bei Charlotte Salomon – plötzlich einfach weggeblieben. Die haben uns rausgeworfen. Die Professoren nicht!“ [6]
Jeane Flieser berichtet auch, dass die meisten Kunststudenten eher unpolitisch waren. „Die waren ja alle viel zu jung, die wussten gar nicht, was da hochkam.“ [7]
Das gilt zunächst sicher auch für Carl Baumann. Er versucht, sich auf seine Kunst zu konzentrieren. Wohl noch durchdrungen von seiner Zeit bei Johan Thorn Prikker, hat sich der junge Hagener für die Bildhauer-Klasse beworben. Aber für ihn gilt sowieso: Ein guter Maler muss bildhauerisch, und ein guter Bildhauer malerisch arbeiten
trachten.
Ein damaliger Mitstudent, der Bildhauer Ernst Thomann, erinnert sich in einem Gespräch mit der Autorin im August 2008 an Carl Baumann und beschreibt ihn als eher ruhig und in sich gekehrt. „Er war ein netter Kerl, hatte mit Gies ein gutes
Verhältnis und war oft bei ihm im Atelier.“
Das Leben in der Hochschule schildert er so: „Wie waren die ganze Zeit in der Akademie, da war man den ganzen Tag, in den Ateliers mit weißem Kittel, und ich trug eine Baskenmütze. Da gab’s eine Kantine, da saßen wir mit einigen oft zusammen, abends ging dann jeder für sich nach Hause. Manchmal aber gab es auch Feste. Wir haben da rumgetobt, Tänze gestaltet, Gaudi gehabt, jeder hat für sich getanzt, und die anderen haben geklatscht, richtige Gaudi gehabt. Und da war Carl auch dabei, so trocken wie der sonst war.“
Ernst Thomann fertigt 1938 eine Büste von Carl Baumann. „Sein Kopf hat sich besonders gut geeignet. Er hat mir zwei Wochen – immer mal wieder – Modell gesessen.“
Carl Baumann, der seinen Namen damals noch wie sein Vater mit „K“ schrieb, besucht ab Wintersemester 1936/37 die Klasse des Landschaftsmalers Franz Lenk. In der Klasse von Lenk bleibt er bis zu dessen Ausscheiden nach dem Wintersemester 1938/39. Lenk gilt als Vertreter der Neuen Sachlichkeit und arbeitet seit August 1933 als Professor an den Vereinigten Staatsschulen. Joseph Goebbels ist inzwischen Minister für Propaganda und Volksaufklärung und die
Nationalsozialisten streben die Gleichschaltung von Kunst und Kultur an.
Zu diesem Zweck wird im September 1933 die Reichskulturkammer gegründet. Den Vorsitz übernimmt Goebbels selbst. Die Reichskulturkammer soll verhindern, „dass es zu einer Wiederkehr des verjudeten Literatur-und Kunstbetriebs kommt“. Alles hat „so braun zu werden wie das Ehrenkleid des Nationalsozialisten.“
1933 wird Franz Lenk Mitglied des Präsidialrates für bildende Kunst in der Reichskulturkammer. Aus seiner Gegnerschaft gegen die neue Regierung macht er jedoch keinen Hehl. In einem Brief schreibt er: „Die braunen Nazis sind selbständige Polizei geworden. Ich bedanke mich für einen Polizeistaat. Er ist der Ruin für jegliche Kunst und Kultur. Ich liebe meine Freiheit über alles. Das ist ja der Boden meiner Kunst. Deswegen bin ich von den Dingen auch so besonders stark berührt.“ [8]
1936 ergeht ein totales Verbot jeglicher Kunst der Moderne. Maler, Schriftsteller und Komponisten erhalten – soweit sie nicht längst emigriert sind – Arbeits- und Ausstellungsverbot.
Baumann wird Zeuge, als Lenk sich weigert, an der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ 1937 in München teilzunehmen. Die Ausstellung in München propagieren die Nazis als die wichtigste kulturelle Veranstaltung im nationalsozialistischen Deutschland. Parallel dazu läuft die Ausstellung „Entartete Kunst“ im Münchner Hofgarten. Sie zeigt Kunstwerke der jetzt verfemten Künstler, die vorher in Galerien und Museen beschlagnahmt worden waren. Rund 5.000 Gemälde und etwa 12.000 Grafiken werden aus öffentlichen Sammlungen im Deutschen Reich als entartete Kunst entfernt und später für teures Geld im Ausland verkauft.
Es wird jetzt die Ideologie umgesetzt, die der Berliner Kunstprofessor Willy Maillard in einem Brief an das Kultusministerium schon 1933 eingefordert hatte:
„Die Kunstentwicklung der letzten Jahre hat zu einem Chaos geführt. Die der deutschen Kunst aufgezwungenen ‚…ismen‘ müssen unschädlich gemacht werden, alles, was zur Zersetzung beiträgt, muss beseitigt werden, wie es die neue
Regierung bereits auf dem politischen und wirtschaftlichen Gebiete getan hat.“ Prof. Kutschmann, Direktor der VS, stimmt den Thesen zu: „Sie decken sich durchaus mit meinen eigenen Ansichten und Wünschen.“ [9]
Und zu dem für die Kunst nun vorherrschenden Menschenbild heißt es 1936 im Völkischen Beobachter: „Wir haben einen starken, einfachen, monumentalen Willen zu einer überpersönlichen Öffentlichkeit. Nicht mehr das Portrait des Einzelnen, sondern die symbolkräftige menschliche Gestalt als Gleichnis höherer Ordnung, nicht das Individuum, sondern der Mythos – das ist das innere Ziel, dem auch die Plastik unserer Zeit zustrebt.“ [10]
Exemplarisch für den Ausschluss der künstlerischen Moderne nach dem Kriterium des „Entarteten“ oder „Kulturbolschewistischen“ stehen an den VS die Bildhauer Ludwig Gies und Erwin Scharff sowie die Maler Cesar Klein und Karl Hofer.
Am 15. Juni erhält Gies seine Kündigung zum 31. Dezember 1937, genauso wie Ernst Böhm und Alfred Vocke. Aus Protest gegen die Politisierung der Kunst und die Verfolgung von Kollegen verlässt Franz Lenk die Hochschule nach dem
Wintersemester 1938/39.
Carl Baumann erlebt, wie der Nationalsozialismus die deutsche Kunst von allen Strömungen brutal abschneidet, wie seine Lehrer aus der Akademie geworfen und seine Mitstudenten verfolgt, verachtet und ausgestoßen werden. Er ist oft deprimiert und verunsichert, wenn er von der Charlottenburger Hochschule am Steinplatz nach Hause geht, in sein kleines Zimmer in der Goethestraße 7.
Im Wintersemester 1939/40 belegt Baumann einen Malkurs bei Peter Fischer. Ein Jahr zuvor hatte dort die Jüdin Greta Kaufmann studiert, die sich nach dem Krieg an ihren Professor erinnert:
„Von 17-21 Uhr hatte ich einen Aktzeichenkurs, und dieser Lehrer, das war Prof. Peter Fischer, war außer sich über die Zustände. Er hat gesagt ‚So etwas kann sich nicht halten. Das ist unmöglich, das ist in ein paar Tagen vorbei!‘ Aber ich sollte heute lieber ein Auto nach Hause nehmen, denn man weiß nicht, was auf den Straßen passiert. Und nach einigen Tagen bekam ich die schriftliche Mitteilung, dass ich die Schule nicht mehr betreten darf, dass ich meine Arbeiten nicht mal mehr abholen konnte. Und dann kamen meine Kollegen zu mir und brachten mir meine Arbeiten, kamen mit Tränen in den Augen und sagten, wie entsetzlich sie sich schämten, dass sie Deutsche sind. Prof. Fischer hat mich danach noch in sein Haus eingeladen und war sichtlich verstört über alles, was geschah.“ [11]
Nach den Pogromen der „Reichskristallnacht“ 1938 werden Juden von der Teilnahme an „Veranstaltungen der deutschen Kultur“ generell ausgeschlossen. Ein Erlass vom 12. November 1938 ordnet an, „inländischen jüdischen Studierenden zur Vermeidung von Unzuträglichkeiten bis zur weiteren Entscheidung die Teilnahme an den Vorlesungen und Übungen sowie das Betreten der Hochschule zu verbieten“. Ab dem 8. Dezember 1938 dürfen Juden an deutschen Hochschulen nicht mehr studieren. Der Direktor der Staatlichen Kunsthochschule telegrafiert bereits am 12. November an das Reichserziehungsministerium: „Juden sind an der Hochschule nicht vorhanden. Besonderes Verbot erübrigt sich.“ [12]
Während der Studienzeit müssen die Studierenden einer Fachschaft des NS-Studentenbundes beitreten. Das gilt auch für Carl Baumann. In einer Akte des NS-Studentenbundes mit Unterlagen zu „Karl Baumann“ findet sich ein Schreiben, in dem auf die Entlassung Baumanns aus der Fachschaft hingewiesen wird. Der NS-Studentenführer hält „den Baumann“ zwar für überdurchschnittlich begabt, aber für eine „Formation“ völlig ungeeignet. Es fehle ihm die „innere und äußere Disziplin, die ihn zu einem wirklich wertvollen Glied der Gemeinschaft machen würde“. [13]
1937/38 besucht der Student Carl Baumann auch die Klasse „Tierzeichnen“ von Karl Mickelait, ab dem Sommersemester 1939 die Malklasse von Adolf Strübe, Professor für Malen und Wandmalerei. Die Hochschule wird zu diesem Zeitpunkt in „Staatliche Hochschule für Bildende Künste“ umbenannt. Ab dem Wintersemester 1939/40 belegt Baumann einen Kurs in Anatomie bei Wilhelm Tank. Der hatte bereits 1935 von Direktor Kutschmann Anweisungen zu seinem Unterricht erhalten:
„Es ist angeregt worden, Nichtarier, insbesondere Juden und Zigeuner, vom Modellmarkt auszuschließen und ihre Beschäftigung als Modell im Hause zu verbieten. Ich halte es für dringend erwünscht und selbstverständlich, dass die deutsche Künstlerschaft die Rassepolitik der Regierung dadurch bahnbrechend unterstützt, dass sie in ihren Werken durch die Bevorzugung rassereiner Modelle den Blick des Volkes für die Schönheit des arischen Menschen schärfen hilft. Ich habe deshalb schon vor Monaten Prof. Tank beauftragt, in seinen Unterricht die Rassekunde praktisch mit aufzunehmen und mit den betreffenden Parteidienststellen wegen der Zuweisung geeigneter Modelle in Verbindung zu treten. Der Blick für die Erkenntnis der Rassemerkmale, der in den letzten Jahrzehnten sogar den Künstlern vielfach verloren ging, muss aber erst wieder erzogen werden. das geschieht(…) am besten durch die vergleichende Gegenüberstellung der verschiedenen Rassen.“ [14]
Tank ignoriert die Vorgabe seines Chefs. Seine jüdische Studentin Greta Kaufmann, die Ende 1938 die Hochschule verlassen muss, bestätigt das indirekt: „Ich hab Anatomie gemacht bei Tank, da war kein Nazi-Student drunter. [15] Und sein späterer Schüler Prof. Ortwin Müller, der viele Jahrzehnte nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen Tanks in der DDR lehren wird, ergänzt im Gespräch mit der Autorin im Januar 2010:
„Tank war gegen jede Rassenideologie. Er wollte Wissenschaft und Kunst zusammenbringen, und er gab mit seiner Anatomie jungen Künstlern eine sehr gute Grundlage für ihre künstlerische Entwicklung.“ Tank’s Auffassung „Was wirklich gut ist, ist zu allen Zeiten gut und ein Ganzes. Eine moderne Kunst ist „Mode“. Sie hat also ihren Wert verloren, denn sie hat ihren Sinn verloren, da sie das zeitlich Gebundene an die Stelle des immer Gültigen setzt“ [16] wird in der Folgezeit auch für den Künstler Carl Baumann zutreffen, der sich weder einem Zeitgeist noch einer Strömung unterwerfen wird.
Unterwerfen muss er allerdings sich den Ritualen an der Hochschule. Bestimmte Veranstaltungen sind für die Studierenden Pflicht. An jedem 30. Januar, dem Tag der Machtübernahme, fällt der Unterrichtsbetrieb aus, und es gibt stattdessen eine Feierstunde in der Aula. Im Februar folgt jährlich der „Tag der Leibesübung“, an dem alle Studierenden der Berliner Hochschulen teilnehmen müssen. 1936 gestalten die Studenten der Vereinigten Staatsschulen die Dekoration der Festhalle auf dem Reichssportfeld. Den „Höhepunkt“ bildet Hitlers Geburtstag . Wegen „gewaltiger Aufmärsche“ fällt der Unterricht für zwei Tage aus. Seit dem Wintersemester 1933/34 gehört außerdem die Teilnahme am „Wehrsport“ zu den Pflichten aller Studenten.
Ein Brief des Vertreters der Studentenschaft der VS gibt Aufschluss über das Ausmaß der Belastungen durch die sportlichen Pflichtveranstaltungen: „Zwei mal wöchentlich von 7-9 Uhr findet Leichtathletik und einmal wöchentlich Schwimmunterricht statt, hinzu kommt für die männlichen Studierenden einmal wöchentlich Kleinkaliberschießen. Da diese Sportstunden auf den Sportplätzen des Hochschulinstituts für Leibesübungen an der Avus absolviert werden müssen, geht den Studenten wichtige Zeit für ihre künstlerische Arbeit verloren. Dies schon deswegen, weil sich der Stundenplan einer Kunsthochschule nach dem Tageslicht richten muss. Eine von einem Kunsthochschüler versäumte Stunde ist nie wieder einzuholen.“ [18]
Im Zuge ihrer Eroberungspolitik führen die Nazis 1940 den „freiwilligen Einsatz deutscher Studierender“ ein. Carl Baumann wird unfreiwillig Soldat. Für das Sommersemester 1940 ist sein Name im Archiv der Hochschule nicht aufgeführt. Aber schon im Wintersemester 1940/41 erhält er einen „Studienurlaub“ zur Weiterbildung und zur Prüfung.
1941 malt er in seinem Atelier in der Akademie ein Bild, das später unter dem Namen „Rote Kapelle Berlin“ zu seinen wichtigsten gehören wird. Es zeigt im Hintergrund eine im Bau befindliche Brücke, die Carl Baumann auf einer seiner vielen Studienausflüge nach Thüringen skizziert hatte: Die Saale-Brücke in Jena-Göschwitz. Davor malt er drei entschlossen dreinblickende Männer. Das Brückenmotiv eint alle drei und fungiert hier als Symbol. Das Bild „Die Rote Kapelle Berlin“ geht jedoch in seiner Bedeutung weit über den Symbolwert hinaus. Es ist Ausdruck einer Solidarität mit Menschen, die sich dem Faschismus widersetzen. Die drei dargestellten Männer sind Harro Schulze-Boysen, Walter Küchenmeister und Kurt Schumacher, die wie Bauarbeiter und Architekten vor der zu errichtenden Brücke zusammen stehen. Rechts im Hintergrund hat sich der Maler Carl Baumann selbst in das Bild eingebracht.
50 Jahre später wird das Westfälische Landesmuseum in Münster dieses Bild erwerben.
„Was wir in dem 1941 gemalten Bild vor uns haben, ist ein Werk jener neuen Gegenständlichkeit, die in den 30er Jahren die „Neue Sachlichkeit“ ablöste und manchmal Züge aufwies, wie sie dem magischen Realismus eigen waren. Es hat eine eigene malerische Qualität, aber es hat auch noch – darin integriert – die Qualität einer historischen Zeugenschaft. Man weiß, wer hier dargestellt oder gemeint ist. Der später hinzugefügte Titel sagt es, und der Maler bestätigt es.“ [19]
Baumann gehört zu einem Kreis von antifaschistisch eingestellten Künstlern. Die Ärztin Elfriede Paul nennt in ihrem Erinnerungsbuch „Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle“, einige der Namen aus dem Kreis von Gegnern des Nazi-Regimes, die zu den konspirativen Treffen kommen: Elisabeth und Kurt Schumacher, Fritz Cremer, Theo Bechteler, Walter Schoneweg, Alfred Kitzig und Karl Baumann. [20]
Elisabeth Schumacher studiert an der Hochschule Grafik bei Ernst Böhm, der dann aber aus dem Hochschuldienst entlassen wird, weil seine Frau Jüdin ist. Kurt Schumacher ist Meisterschüler bei Ludwig Gies und teilt sein Atelier mit Fritz Cremer, der bei Wilhelm Gerstel Meisterschüler ist. Schumacher hat schon 1932 Kontakt zu Harro Schulze-Boysen, der zu dem Zeitpunkt eine antifaschistische Zeitung herausgibt. Als Angestellter des Reichsluftfahrtsministeriums kommt er an die Pläne zur Entwicklung des NS Staates heran.
1936 eröffnet die Ärztin Elfriede Paul ihre Praxis in der Sächsischen Straße 63A in Berlin-Wilmersdorf. Im selben Jahr lernt sie den Journalisten und Schriftsteller Walter Küchenmeister kennen. Der hat Kontakt zu Kurt Schumacher und Harro Schulze-Boysen und arbeitet an einer Widerstandszeitung mit. Elfriede Paul und Küchenmeister werden ein Paar, und die Praxis der Ärztin wird zum Treffpunkt oppositioneller Kräfte. Wie der Bildhauer Fritz Cremer berichtet, dient die unbesetzte Pförtnerloge des Hauses nicht nur als Informationsstelle, sondern auch als „Wärmehalle“, in der man sich stundenweise aufhalten und ungestört antifaschistische Literatur lesen kann. Für die Benutzung gilt ein straffer Zeitplan, um unter den Bedingungen der Illegalität ein Zusammentreffen mehrerer Personen zu verhindern. [21]
Das Miterleben von Diffamierungen, Verfolgung und Ausgrenzungen von Studierenden und Professoren der Hochschule und der zunehmend brutalere Nationalsozialismus in Deutschland wecken den Widerstandsgeist in Carl Baumann. Über Mitstudenten und Künstlerfreunde lernt er Kurt Schumacher kennen, der inzwischen aufgrund der öffentlichen Angriffe gegen seinen Lehrer Ludwig Gies das Studium abgebrochen hat. Über Schumacher trifft er auch mit Walter Küchenmeister zusammen.
Kurt und Elisabeth Schumacher, Walter Küchenmeister und Elfriede Paul gehören ebenso wie andere Künstler und Intellektuelle, wie Oda Schottmüller, der Schriftsteller Adam Kuckhoff, der Fotograf John Graudenz und ab 1940 auch der
Musiker Helmut Roloff zu einem Kreis um den Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium Arvid Harnack und den Luftwaffenoffizier Harro Schulze-Boysen.
Bis 1940/41 bildet sich daraus ein loses Netzwerk von sieben Berliner Freundes-, Diskussions- und Schulungskreisen mit rund 200 Berliner NS-Gegnern heraus. Hier begegnen sich Künstler, Wissenschaftler, Bürger, Arbeiter und Studenten verschiedener Herkunft und verschiedener politischer Richtungen, davon etwa 40 Prozent Frauen. Sie alle sorgen sich um die Meinungsfreiheit und suchen den offenen Gedankenaustausch wenigstens im Privatbereich. Entsprechend der
sozialen Zusammensetzung des Netzwerks unterscheiden sich auch die politischen und weltanschaulichen Ansichten. Während Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack in manchen Ideen der KPD nahestehen, sind andere wie Maria Terwiel und das Ehepaar Himpel gläubige Katholiken. Was sie eint, ist die Ablehnung des Nationalsozialismus. Das Besondere dieses Widerstandskreises ist, dass es keine Struktur gibt. Die meisten wissen nichts voneinander, aber jede und jeder hat für sich das starke Bedürfnis, etwas gegen den Faschismus zu tun.
Der Widerstandskämpfer Hans Sussmann erinnert sich: „Es fanden unregelmäßige Besuche bei Elfriede Paul und Walter Küchenmeister statt, wo wir auch manchmal andere, uns unbekannte und nur mit irgendeinem Vornamen vorgestellte Besucher antrafen. Andeutungen von Küchenmeister ließen darauf schließen, dass er und Elfriede mit einer großen Gruppe in Verbindung standen.“ [22]
Elfriede Paul beschreibt in ihrem Buch die Treffen, die in ihrer Praxis stattfanden: „Harro Schulze-Boysen brachte Zeitschriften, bebilderte und geheime Materialien aus seinem Ministerium mit, darüber wurde gesprochen. Wir erfuhren auch sehr viel durch Walter Husemann aus den Konzentrationslagern … wir verarbeiteten das zu Flugblättern.“ [23] Die Flugblätter werden an Adressen aus dem Telefonbuch geschickt oder nachts in Bahnhöfen an die Wände geklebt.
Auch der Pianist Helmut Roloff beteiligt sich an den Aktivitäten der Roten Kapelle. In seinen Erinnerungen wehrt er sich gegen den oft im Zusammenhang mit der Gruppe benutzten Ausdruck „Mitglieder“. Für ihn sind seine Mitstreiter Angehörige von Kreisen, die sich durch geistige Verwandtschaft auszeichnen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, das dem einer Familie ähnelt. Gemeinsam ist ihnen das Bedürfnis nach Freiheit und besseren Lebensumständen, der Mut, sich dem Regime zu widersetzen, sowie das Ziel, Hitler und die Nazis zu beseitigen. [24]
Wegen ihres Kontaktes zur Sowjetunion wird die Berliner Gruppe von der Spionageabwehr und der Gestapo unter dem Namen „Rote Kapelle“ zusammengefasst. Ein Funker, der mit seinen Fingern Morsecodezeichen klopft, ist in der Geheimdienstsprache ein Pianist. Eine Gruppe von „Pianisten“ bildet eine „Kapelle“, und da die Morsezeichen aus Moskau kommen, ist die „Kapelle“ kommunistisch und damit rot. Dieses Missverständnis bildet die Basis für die spätere
Beurteilung der Widerstandsgruppe als eine der Sowjetunion dienende Spionageorganisation.
Nach dem Krieg erzählen ehemalige Sympathisanten des Kreises um Schulze-Boysen/Harnack auch von den Festen und ungezwungenen Zusammenkünften. Rainer Küchenmeister erinnert sich auch an die Tanzkünste von Carl Baumann: „Der hat zu brasilianischen Klängen auf ganzen Sohlen getanzt. Sehr temperamentvoll, und die Frauen haben schon ein Auge auf ihn geworfen. Der war so ein richtiger Kerl.“ Das macht deutlich, dass auch in der reinen Lebensfreude und dem Bedürfnis nach Individualität eine Triebfeder für den Widerstand liegt. Die meisten Männer und Frauen sind noch sehr jung, zwischen 18 und 30. Aber auch einige Ältere sind dabei, wie etwa der ehemalige preußische Kultusminister Adolf
Grimme.
Bei diesen Menschen fühlt sich Carl Baumann wohl. Ob und an welchen Aktionen er teilnimmt, ist nicht bekannt. Er spricht später nie darüber. Aber sein Bild „Rote Kapelle Berlin“ hat nach dem Krieg jahrzehntelang in seinem Haus seinen Platz. Und er verwahrt auch in einem Umschlag über all die Jahre eine Postkarte, adressiert an Dr. med. Elfriede Paul, abgeschickt in Zürich 1939 mit folgendem Text: „Liebes Frl. Doktor, vielen Dank für die freundlichen Grüsse, die ich herzlich erwidere. Ihrem Patienten Walter geht es den Umständen entsprechend gut. Alles Gute und hoffentl. auf Wiedersehen im Sommer. Ihr Fritz“
Der Unterzeichner ist Fritz Sperling, wie Elfriede Paul und Walter Küchenmeister Kommunist, der zur Abschnittsleitung Süd der KPD und zu den Gründern der „Bewegung Freies Deutschland“ gehört. Der ebenfalls auf der Karte erwähnte Walter Küchenmeister hält sich 1939 wegen einer Tuberkuloseerkrankung in der Schweiz auf.
Die Vorderseite der Postkarte zeigt eine Szene aus einem Wandgemälde von Duccio di Buoninsegna aus dem Museum dell’Opera in Siena: Der Judaskuss. Ein Bild, das Verrat, Verfolgung und Drangsalierung assoziiert. Vielleicht eine versteckte Warnung des Genossen in der Schweiz an seine gefährdeten Mitstreiter in Deutschland, vorsichtig und umsichtig zu sein. Vielleicht hat Elfriede Paul irgendwann die Postkarte zu diesem Zweck auch an Carl Baumann weitergegeben. Dass er sie verwahrt hat, lässt auf die Bedeutung dieser Menschen für ihn in der damaligen Zeit
schließen.
Für die Künstler an der Berliner Hochschule gestaltet sich das Schaffen Ende der 30er Jahre nicht leicht. Die Nazis geben Idealbilder für künstlerische Arbeit vor, denen Arno Breker, der am 1. Mai 1938 an die Hochschule berufen wird, besonders gut nachkommt. In den folgenden Jahren wird er zu einem der am meisten anerkannten Gestalter der NS-Kunst. Zwischen 1938 und 1941 entstehen Brekers Monumentalfiguren wie „Partei“ und „Wehrmacht“ für den Ehrenhof der neuen Reichskanzlei.
„Anders als Fritz Cremer, der seine antifaschistische Haltung mit seiner künstlerischen Auffassung insofern vereinbaren konnte, als sein an Gerstel geschulter Realismus nicht auf den ersten Blick als „entartet“ angesehen werden konnte, stellt Kurt Schumacher im Laufe dieser Jahre seine künstlerische Arbeit weitgehend ein. Die Orientierung an der Formensprache seines Lehrers Ludwig Gies hätte auch für Schumacher eine Existenzgefährdung bedeutet, der er sich bei gleichzeitiger politischer Arbeit nicht aussetzen konnte“. [25] Kurt Schumacher richtet sich, nachdem er sein Studium aufgrund der Angriffe gegen Ludwig Gies abgebrochen hatte, in Berlin-Tempelhof ein Atelier ein.
Carl Baumann arbeitet während dieser Zeit in seinem Atelier in der Hochschule. Zu den Unterrichtsgebieten der Kunsthochschule gehören großformatige Wandbilder. Im Unterschied zum Tafelbild ist die Wandgestaltung als öffentliche Kunst viel stärker den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen unterworfen. Die Nazis fordern eine Heroisierung des Nationalsozialismus, Einzelfiguren sollen die „Volksgemeinschaft“ repräsentieren oder stellvertretend für verschiedene NS-Organisationen stehen.
In einer „Me-Ti-Geschichte“, in der er die Verantwortung der Künstler unter den Bedingungen des Nationalsozialismus formuliert, schreibt Bertolt Brecht: „Zu der Zeit der äußersten Unterdrückung durch den Hi-Jeh fragte ein Bildhauer den Me-Ti, welche Motive er wählen könne, um bei der Wahrheit zu bleiben und doch nicht der Polizei in die Hände zu fallen. Mache eine schwangere Arbeiterfrau, riet ihm Me-Ti, laß sie mit kummervollem Blick ihren Leib betrachten – dann hast du Vieles gesagt.“ [26]
Der Sohn von Walter Küchenmeister, der heute in Paris lebende Künstler Rainer Küchenmeister, erinnert sich im Gespräch mit der Autorin im Februar 2010: „Carl Baumann hatte den Auftrag der Nazis, SA Männer auf einem Wandgemälde für eine Kantine zu malen. Er malte das Bild, ordnete die Männer aber so geschickt an, dass man ihre roten SA-Armbinden nicht sah. Das war sein Widerstand“
1941 macht der Meisterschüler Carl Baumann Examen an der Hochschule für Bildende Künste und malt im selben Jahr „Die Rote Kapelle Berlin.“ Während der 29jährige in seinem Atelier an dem Bild arbeitet, ist er sich der Gefahr entweder nicht bewusst, oder er nimmt sie in Kauf. Aber im Sommer 1942 wird ihm deutlich gemacht, dass er unter Beobachtung steht. Die Gestapo taucht in seinem Atelier auf, erkennt aber offensichtlich nicht das wahre Motiv des Kunstwerks. In diesen Wochen nehmen die Bespitzelungen der Menschen, die der Roten Kapelle nahe stehen und in irgendeiner Form für sie tätig sind, zu. Dann, Ende des Sommers geht es plötzlich Schlag auf Schlag: Am 31. August wird Harro Schulze-Boysen verhaftet, am 7. September Arvid Harnack, am 12. September Elisabeth und Kurt Schumacher, am 16. September Walter Küchenmeister, sein 16jähriger Sohn Rainer und Elfriede Paul, am 17. September Helmut Roloff und am 19. September Carl Baumann. Bis zum Frühjahr 1943 werden über 150 Menschen der Berliner Gruppen festgenommen.
Helmut Roloff schildert 1998 seinem Sohn, was er nach der Festnahme erlebt hat. Man kann davon ausgehen, dass Carl Baumann dasselbe durchmachen musste, denn beide werden ins Gestapo-Hauptquartier in die Prinz-Albrecht-Straße 8 gebracht.
„Im Innenhof zerrten sie mich aus dem Wagen und stiegen in einen Fahrstuhl. Ich wurde anderen Polizisten übergeben, die meine Taschen leerten und mich in einen länglichen Raum führten. Am entgegen gesetzten Ende stand ein Stuhl. Ich wurde aufgefordert, mich hinzusetzen, mein Hinterkopf wurde an eine Metallstange gedrückt und rechts wurde auf Schulterhöhe ein Schild mit Datum und Nummer eingeklinkt: . Hinten an der Wand standen zwei Kinder von Gestapo-Beamten und schauten interessiert zu, dazwischen war die Kamera platziert. Dann wurde der Raum verdunkelt, ein Beamter drückte auf den Auslöser, und der Blitz blendete mich. Links stand ein weiterer Beamter, der einen mit dem Stuhl verbundenen, etwas über einen Meter langen Hebel betätigte. Mit einem knarrenden Geräusch schwang er den Stuhl mit einem plötzlichen Ruck nach rechts. Ein zweiter Blitz beleuchtete mein Profil, bevor der Stuhl mit einer weiteren harten Bewegung in der Halbprofilposition einrastete.
Dann durfte ich wieder aufstehen, die Gestapo hatte die erkennungsdienstliche Fotos gemacht; danach wurde ich in den Keller gebracht, wo SS-Männer mir Handschellen anlegten und mich in eine kleine Isolierzelle führten. Dann wurde die Tür zugeschlagen.“ [27]
Genau wie Helmut Roloff macht sich sicher auch Carl Baumann in seiner Zelle verzweifelte Gedanken, was ihm bevor steht. „Von draußen hallten über den Korridor Stiefelschritte, die in unregelmäßigen Abständen auf- und abmarschierten. Plötzlich wurde mit einem lauten Klicken das Licht in der Zelle angeschaltet, Schritte näherten sich der Tür und blieben vor ihr stehen, und ein Auge starrte mich an, das, isoliert von dem dazugehörigen Gesicht, keine Gemütsbewegung erkennen ließ. Nach einer Weile wurde die Klappe wieder zugeschoben, die Schritte entfernten sich, und das Licht wurde mit demselben unerwartet lauten Klicken wieder abgeschaltet. Dann setzte sich der enervierende Rhythmus der Stiefelschritt fort. Ich versuchte, ruhige Gedanken zu fassen und spielte im Kopf durch, welche Richtung das Verhör bekommen sollte. Mein Körper schmerzte, denn mit den auf dem Rücken gebundenen Händen war es nicht möglich, entspannt auf der Pritsche zu liegen. [29] Helmut Roloff ist zwei Wochen in Gestapo-Haft, Carl Baumann vier Wochen. „Im Keller der Prinz-Albrecht-Straße verblieb ich mit auf dem Rücken gebundenen Händen. Die Handschellen wurden nur abgenommen zum Urinieren und zum Suppe essen. In dieser Zeit wurde ich wiederholt zu weiteren endlosen Verhören geführt, mal in der Nacht, mal am Tag. Oft wurde ich geweckt, wenn ich gerade eingeschlafen war, und manchmal passierte tagelang nichts. Das Einzige worauf ich mich verlassen konnte, war, dass mir immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden. Ich wurde nicht gefoltert, sondern ,nur‘ angeschrien und bedroht.“ [30]
Der Sohn von Walter Küchenmeister, der 16jährige Rainer, wird wie sein Vater und Elfriede Paul ständig verhört. „Als er auf eines dieser Verhöre wartete, wurde Schulze-Boysen zufällig vorbeigeführt und nickte ihm schwach zu. Beide Hände waren von blutigen Binden umwickelt, an alle zehn Finger hatte man ihm Schrauben angesetzt. Es war das letzte Mal, dass Rainer Küchenmeister ihn sah.“ [31]
Carl Baumann wird am 20. Oktober in einem offiziellen Polizeiwagen in das Strafgefängnis Spandau überführt. Helmut Roloff am 2. Oktober: „Auf dem Weg nach Spandau sah ich zum ersten Mal wieder andere Menschen. Bislang war der Kontakt auf den Verhörer, die SS-Aufseher, die Stenotypistin und die Kalfaktoren beschränkt gewesen. Erstmals nach langer Zeit sah ich wieder Tageslicht, denn in die Zelle war nur ein spärlicher Lichtstrahl aus einem kleinen Fenster unter der Decke gefallen.“ [32]
Seine Zelle ist zwölf Quadratmeter groß mit einem Klappbett aus Metall, Kloschüssel, Tisch und Stuhl. Als Lektüre gibt es den „Völkischen Beobachter“.
„Das Leben in Spandau war eintönig. Morgens gab ein Wärter mit scheppernden Gongschlägen den Befehl zum Aufstehen, die Betten wurden hochgeklappt, und dann musste die Zelle mit Bürste und Wasser, aber ohne Seife, sauber gemacht werden. Tagsüber saß ich auf dem Stuhl oder ging in meiner Zelle auf und ab. Einmal am Tag durften die Gefangenen für eine Stunde in den Hof, wobei sie schweigend im Kreis gehen mussten, es war streng verboten zu sprechen. Schlimmer als die SD-Wachen in der Prinz-Albrecht-Straße benahmen sich die Aufseher in Spandau, die die Gefangenen nicht genug schikanieren konnten. Insbesondere der Hauptwachtmeister quälte und demütigte die Häftlinge. Einmal in der Woche kamen zwei Kalfaktoren, um die Häftlinge zu rasieren.“ [33]
Die Ungewissheit, was mit ihnen geschehen wird, treibt die Männer um. Viele gehören dem Kreis der Roten Kapelle an. Einigen gelingt es, miteinander in Kontakt zu kommen – durch ein morseähnliches Klopfalphabet über die Heizungsrohre des Gefängnisses oder indem sie sich heimlich kleine Zettel zustecken.
Ende November wird Carl Baumann aus dem Gefängnis entlassen. Er muss ein Papier unterschreiben, das ihm die Todesstrafe androht, wenn er etwas von dem verlauten lässt, was er in der Haft erlebt oder erfahren hat.
Am 19. Dezember 1942 werden Harro Schulze-Boysen und Kurt Schumacher wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ und „Landesverrat“ zum Tode verurteilt und auf Befehl Hitlers am 22. Dezember in Berlin-Plötzensee erhängt. Walter Küchenmeister wird am 6. Februar 1943 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt und am 13. Mai durch das Fallbeil in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Der Strafantrag, der am selben Tag für Elfriede Paul gestellt wird, fordert ebenfalls die Todesstrafe, aber das Urteil lautet auf sechs Jahre Zuchthaus. Helmut Roloff wird Ende Januar 1943 aus dem Spandauer Gefängnis entlassen.
Insgesamt werden mehr als 60 Mitglieder der Gruppe in Berlin-Plötzensee von den Nazis ermordet.
Der Sohn von Helmut Roloff schreibt in seinem Buch über die Rote Kapelle, dass es seinem Vater, der immer gegen die Nationalsozialisten eingestellt war, gelang, seinen Verfolgern das Bild des naiven und unpolitischen Musikers zu vermitteln. Das rettet ihm das Leben. Baumann verhält sich wohl ähnlich und und kommt deshalb frei. Allerdings nicht ohne Bestrafung.
Nach der Haft wird er zur Wehrmacht beordert und zwar zur Bewährungseinheit an die Ostfront. Unterbrochen durch kurze Aufenthalte in Berlin, wo Carl Baumann Anfang 1944 seinen Bruder Willi malt. Im November 1944 wird er kurz vor Warschau verwundet. Wenige Monate später zeichnet er die Situation, in der er getroffen wurde und notiert auf der Rückseite: „Kurz vor meiner Verwundung in Polen November 1944.“ Am 21. April 1945 kommt er in das Kriegsgefangenenlager Eisleben-Helfta, einen Monat später nach Naumburg, am 30. Juni ins Gefangenenlager nach Babenhausen in Hessen. Das Erlebte in diesen Monaten verarbeitet Baumann in mehreren erschütternden Zeichnungen: Lager-Alltag gekennzeichnet von Hunger, Kampf ums Essen, Trauer und Verzweiflung. Am 18. Juli kommt er frei. Danach führt sein erster Weg zurück nach Berlin in sein Atelier in der Akademie. Dort findet er das Bild „Die Rote Kapelle“ unversehrt. Zwei Jahre später nimmt er es mit nach Hause in seine Heimatstadt Hagen. Ein Angebot, als Professor in Berlin zu bleiben, lehnt er ab.
Als Baumann 1947 nach Hagen zurückkehrt, ist er knapp 35 Jahre alt. Das Selbstporträt, gemalt Ende 1944, zeigt einen Mann, in dessen Augen eine tiefe Verletztheit sichtbar ist.
Er zeichnet viel in den folgenden Jahren – vor allem Menschen, in deren Gesichtern sich auch Spuren eines schweren Lebens finden. Einen Verwundeten etwa, aber auch eine junge Frau mit halblangen Haaren. Ist es schon Ilse Meyer, die er 1949 heiraten wird?
Kurz nach seiner Rückkehr nach Hagen bekommt er den Auftrag, die zerstörten Altarfenster der Altenbochumer Kirche neu zu gestalten. Pfarrer Erich Brühmann, gebürtig aus Hagen-Haspe, hatte wohl schon vor dem Krieg mitbekommen, zu welchen besonderen künstlerischen und handwerklichen Leistungen Carl Baumann fähig war. Der Kunstliebhaber und Theologe gehört im Krieg der Bekennenden Kirche an. Man kann wohl davon ausgehen, dass die beiden Männer mehr als nur die Kunst verbindet. Die Arbeit Baumanns ist noch heute in der Lukaskirche, wie sie heute heißt, zu besichtigen.
„Bei diesem Fenster, wie bei den beiden anderen, die der Künstler Baumann geschaffen hat, erkennen wir unmittelbar, dass er nicht die Sprache eines vergangenen Stils spricht, sondern die unserer Zeit: eine Sprache, die konsequent, ohne Verbeugung vor einem aus der Vergangenheit mitgebrachten Schönheits- und Natürlichkeitsideal, nur das Wesentliche sichtbar werden lassen will und den innersten Gehalt einer Botschaft (…) zum Ausdruck bringen will. Dieser Kunststil
trägt den Namen Expressionismus.“ [34]
Zur selben Zeit fertigt Carl Baumann eine Wandmalerei an der Janusz-Korczak-Schule in Hagen-Wehringhausen, seinem Geburtsort. Er wählt Szenen aus der bäuerlichen Lebens- und Arbeitswelt. „Eine Arbeit, die über ihre dekorative Wirkung hinaus die Wertschätzung und Bedeutung der Landwirtschaft für das Überleben im kriegszerstörten und hungernden Deutschland der späten 40er Jahre verkörpert. Ein Bild, das neben seinem pädagogischen Impetus im Geist der Zeit auch den Optimismus ausstrahlt, dass mit harter Arbeit ein Überleben und Neubeginn nach dem Krieg möglich ist. [35]
Das gilt auch für seine im selben Jahr gefertigte Wandmalerei an der Volksschule Eickertstraße in Hagen zum Thema: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Auf der 30. Sitzung des Deutschen Bundestages im Jahre 1950 wird eine schon lange bestehende Regelung bekräftigt: „Um die bildende Kunst zu fördern, wird die Bundesregierung ersucht, bei allen Bauaufträgen (Neu- und Umbauten) des Bundes, soweit Charakter und Rahmen des Einzelbauvorhabens dies rechtfertigen, grundsätzlich einen Betrag von mindestens 1 Prozent der Bauauftragssumme für Werke bildender Künstler vorzusehen.“
Von der freien Kunst können auch heute nur wenige Künstler leben. Bis in die 60er Jahre hinein gilt das auf eine noch viel dramatischere Weise. Als Mäzen betätigt sich damals vor allem die Stadt. Aber auch die Wirtschaft zeigt sich auftragsfreudiger als heute. Viele Hagener Künstler, so auch Carl Baumann, leben im Wesentlichen von öffentlichen Aufträgen, der damals üblichen Kunst am Bau. Das erste Sgrafitto von Carl Baumann aus dem Jahre 1950 hängt über dem Schuhgeschäft Salamander in der Hagener Mittelstraße.
Ein weiteres farbiges Sgrafitto fertigt Carl Baumann im selben Jahr über dem Seiteneingang des neuen Postamtes in der Mittelstraße an. Es zeigt Szenen aus dem ländlichen und industriellen Leben im Raum Hagen: eine Feldarbeiterin mit Ährenbündel und einen Stahlkocher.
Viele Aufträge erhält Carl Baumann in den kommenden Jahren durch Wettbewerbserfolge im ganzen Bundesgebiet. Darunter eine große Zahl prägender Arbeiten für Postgebäude in vielen Städten Deutschlands. Baumann setzt hier ganz auf den Werkbund-Gedanken seines Lehrers Johan Thorn Prikker. Und in den Adlern, die er fertigt, folgt er in gewisser Weise seinem Lehrer Gies. Dessen wohl bekanntestes Werk ist der Bundesadler, der zu Zeiten der Bonner Republik als großes Wandrelief im Plenarsaal des Bundestages hing und jetzt im Berliner Reichstag über die Arbeit der Abgeordneten wacht.
Die Kunstarbeiten am Bau nehmen viel Zeit in Anspruch. In den Wiederaufbau-Jahren nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ist Carl Baumann vor allem als „Künstler neben den Bauleuten“ tätig. Künstlerische Zeichen an Bauwerken gelten in der ersten schweren Nachkriegszeit als Zeichen der Hoffnung. Bis Ende der 70er Jahre, als die architektonischen und städtebaulichen Aktivitäten abebben, engagiert sich Baumann für die Kunst am Bau. Dabei ist sie für ihn niemals nur Dekoration, sondern immer Teil des ganzen Werkes.
Sein Wandmosaik, das er 1964 am neuen Fernmeldeamt in Meschede fertigte, kommentiert Baumann so: „Ich habe den Versuch unternommen, das Wesen der Fernmeldetechnik in einem künstlerischen Gleichnis zu gestalten. Wenn man die Geschichte der Völker verfolgt, sieht man, wie immer wieder optische und akustische Zeichen und Formen zur Nachrichtenübermittlung entwickelt wurden. Licht-, Ton und Rauchsignale wurden seit den frühesten Kulturen bis zum heutigen Tag verwandt. Aber erst durch Fixierung, z.B. bestimmte Höhe, Dauer, Reihenfolge, wird aus den Impulsen ein Signal, eine Mitteilung. Dieses Geschehen wollte ich durch die verschiedenen Rechteckformen, Farbflecke und Komprimierungen sowie figürliche Zeichen darstellen. Dabei steht der Mensch immer wieder im Schnittpunkt der Linie.“ [36] Die Arbeit an dem Mosaik dauert Wochen. Jedes Steinchen, mit der Hand geschlagen, klebt Baumann im Negativ auf das Positiv des Papiers. Stück für Stück.
Die Auseinandersetzung und das Zusammenwirken mit Architekten erweisen sich dank seiner künstlerischen Kraft als für beide Seiten fruchtbar, wenngleich nicht immer einfach. Baumann hat seinen eigenen westfälischen Kopf. Er ändert schon mal ohne Absprache mit dem Architekten die Farbe in einem Treppenhaus, wenn sie nicht zu seinem Glasfenster passt.
In der Nachkriegszeit prägt Baumann den Wiederaufbau seiner Heimatstadt Hagen mit. Seine Kunst findet sich an vielen Orten in Hagen und Umgebung. Die Arbeit für seine Stadt ist ihm wichtig. Anfang der 60er Jahre gestaltet er für die Empfangshalle des Theaters den Paradiesvogel, der zu der Zeit auch als Phönix aus der Asche und
Symbol des Wiederaufbaus der kriegszerstörten Hagener Innenstadt gedeutet wird. 1964 fertigt er das 14 Meter lange Mosaik „Die lebende und wachsende Stadt“ für das Rathaus, das heute einen der Sitzungssäle ziert. 1965 folgte die Arbeit an einer Edelstahlplastik für die Stadtwerke.
Baumanns Förderer, der Hagener Stadtbaurat Herbert Böhme, setzt sich für ihn ein und vermittelt ihn und sein Werk. Für Baumann freilich eine zwiespältige Angelegenheit. „Carl Baumann hatte bereits viele Postgebäude mit seiner Kunst am Bau bedacht und so fiel beim radikalen Umbau des Stadtwerke-Gebäudes in Hagen, mit dem mein Vater als Architekt beauftragt war, der Auftrag für ein Relief an Baumann, auf Vermittlung von Herrn Böhme. Ich glaube, dass Carl Baumann solche Aufträge nicht gerne annahm, und dass er sich von ihnen eingeengt fühlte, erst recht, wenn er den Auftrag einem Freund zu verdanken hatte und nicht dem Wunsch des Kunden“ (Ulrike Claas, Tochter des Architekten Helmut Claas im Gespräch mit der Autorin 2009).
Neben der Kunst am Bau versucht Carl Baumann in den Nachkriegsjahren auch das Erlebte und Erlittene künstlerisch umzusetzen. Der Redakteur einer Schülerzeitung, der Carl Baumann 1967 besucht, schreibt in seinem Artikel für die „Lupe“: „Im Verlauf des Gesprächs zeigte uns Carl Baumann eine Reihe von in der Entstehung begriffenen Bildern. In ihnen spiegeln sich Situationen und Erlebnisse seines Lebens wider, die ihn besonders erschüttert haben. Er nennt sie Schockbilder. Besonders beeindruckend war ein für uns abstraktes Bild, das uns erst durch Herrn Baumanns Erklärung gegenständlich wurde. Das Motiv: Eine Exekutionswand.“
Carl Baumanns Selbstdefinition als Künstler ähnelt zu der Zeit der von Otto Dix, mit dem er in Berlin zusammen getroffen war: „Ich habe Tatsachen gemalt, die vor Jahren genauso gültig waren wie heute, morgen und immer. Das Leben kann schön und schrecklich sein. Also muss ich auch das Schreckliche und Furchtbare malen.“ [37]
Baumann, der hochbegabte und handwerklich meisterhafte Zeichner und Maler meidet geradezu die Öffentlichkeit. Man kann als Künstler doch nur dann wirklich den eigenen Weg finden, wenn man eine drängende, treibende, neidende und
verherrlichende Öffentlichkeit meidet“. [38]
Horst Kniese, in den 50er und 60er Jahren Redakteur der Westfälischen Rundschau, beschreibt ihn in einem Artikel so: „Viel lieber als sich um Ausstellungen zu kümmern, meditiert er vor der Staffelei. Denn dann ist Ruhe, dann kann er hinter die Dinge, die er auf die Leinwand bringt, schauen. Carl Baumann ist auch kein Idealfall für Museumsdirektoren und Kunsthistoriker aus aktueller Schau. Der Maler entzieht sich bei seiner Katalogisierung, ist keiner Marschkolonne einer Kunstströmung gefolgt.“
Und er zeigt überhaupt kein Interesse an der Vermarktung seiner Kunst. Viele empfinden es als überaus ungeschickt und unprofessionell, dass er sich weder mit einem Galeristen zusammentut, noch sich um Ausstellungen bemüht. Ein WDR Film aus dem Jahr 1967 zeigt ihn, wie er mit großer Vehemenz seine Leinwand bearbeitet, sein Bild schafft: Schweigend und in sich gekehrt. Es scheint so, kommentiert der Reporter, als wolle er sich aus dem Dialog zwischen Bild und Betrachter auskoppeln. Beschrieben wird ein Künstler, der im Verborgenen arbeitet ohne sich vorzudrängen.
Mit den Worten von Oskar Kokoschka lässt sich auch Baumanns Haltung umschreiben: „Einer, der wusste, dass es nicht gilt, „dabei zu sein, sondern man selbst zu sein.“
Er selbst ist Carl Baumann wohl vor allem in seinem großen hellen, über zwei Stockwerke reichenden Atelier in der Steubenstraße, das gleichzeitig das Wohnhaus ist. Hier lebt der Künstler ab 1953 zusammen mit seiner Frau Ilse und seinen Schwiegereltern. Carl Baumann bezeichnet sich selbst lieber als „Kunstmaler“ statt als Künstler. „Vorausetzung einer guten Arbeit ist“, betont er stets, „dass ein Maler sein Handwerk erlernt hat und es beherrscht.“ Dazu kommen die verschiedenen, im akademischen Betrieb vermittelten Techniken des Zeichnens und Malens viel Fleiß und ebenso viel Disziplin.
Otto Modersohn hat einmal gesagt: „Die Natur ist gewissermaßen die Grammatik. Sie enthält alle Teile. Der Künstler schafft mit ihnen im Bild ein Ganzes. Man muss die Grammatik einer Sprache beherrschen, wenn man sich ausdrücken will. So auch in der Kunst. Es muss der Geist hinzukommen und das Beste dazutun.“ [40] Carl Baumann beherrscht seine Grammatik und spricht viele Sprachen.
In den 50er und 60er Jahren malt er auch abstrakt. Mitte der 60er Jahre heißt es in einem Artikel über eine Ausstellung des Dortmunder Künstlerbundes, zu dem er für kurze Zeit gehört: „Carl Baumanns Variationen sind ebenfalls streng abstrakt, es sind Bilder, die sich erst langsam aus der Tiefe erschließen.“ [41] Oder an anderer Stelle über eine Ausstellung des Künstlerbundes: „Aus der Farbe und ihrer Nuancierung und Schwerpunktbildung heraus konzipiert Carl Baumann eine ,Grüne Vase‘. Hier ist der Gegenstand nur noch Vorwand und Erinnerung.“ Oder auch Anfang der 70er Jahre: Anlass der Ausstellung „ist der bevorstehende 60. Geburtstag des Malers, den man auf Ausstellungen eigentlich vorwiegend als einen Meister gegenstandsloser Farbkompositionen in starken Kontrasten und schweren Oberflächenstrukturen kennengelernt hat. Ein ganz anderer Baumann begegnet jetzt dem Betrachter“. [42]
Dieser „ganz andere Baumann“ malt seine Heimat. Baumann liebt die Natur, er wandert gern, in Kniebundhosen und dicken Schuhen und nimmt wahr, wie die Gegend, die er von Jugend auf kennt, sich verändert. Das bringt er auf die Leinwand. Zum Beispiel das alte Bauernhaus in der Hagener Feithstraße. „Die zum Abbruch bestimmte Kate drückt sich anheimelnd in eine Talmulde. Baumann hat es verstanden, die Geborgenheit, die einst von diesem Haus auf seine Bewohner überging, im Bild festzuhalten.“ [43] Oft sind es Motive der Kindheit, die er auf seine Bilder bannt. Ähnlich wie sein einstiger Berliner Lehrer Franz Lenk, der seine Motivation so ausdrückte:
„Immer treibt es mich das zu gestalten, was mich seit frühester Kindheit – soweit ich überhaupt zurückdenken kann – bewegt. Schon damals habe ich nie nur gesehen, sondern Natureindrücke mit allen Sinnen in mich aufgenommen. Im Ringen um den Ausdruck, bei der Steigerung des Gesehenen zu Rhythmus und Farbe, beim Vereinfachen und Typisieren der Natur entsteht von selbst die Sprache. Ob man das Ergebnis davon ,Naturalismus‘, ,Verismus‘ oder ,neue Sachlichkeit‘ nennt, ist mir vollständig gleichgültig.“ [44]
In den 50er und 60er Jahren steht Carl Baumann immer wieder auch im geistigen und praktischen Austausch mit Emil Schumacher. Bei mehreren Arbeiten der Kunst am Bau in Hagen arbeiten sie handwerklich zusammen. Es ist die Zeit, in der Emil Schumacher bereits international Anerkennung als einer der bedeutendsten Vertreter des Informel erfährt. Die Abstraktion ist zum Merkmal seiner Handschrift geworden. Carl Baumann malt auch abstrakt, aber nicht nur. Er ringt um Aussagekraft in vielen Variationen, und er beherrscht jeden Stil. Er ist nicht einer Richtung zuzuordnen. Er scheint sich fast zu verweigern, nur einem Stil oder einer Richtung zu folgen.
Horst Kniese, der Baumanns Schaffen über Jahrzehnte beobachtet, fasst es imGespräch mit der Autorin so zusammen: „Baumann suchte damals die Ausgangspunkte bei einer individuellen Symbolik, die eine deutliche Distanz zu all den aktuellen künstlerischen Vorgängen, die meist intellektuelle Reize verarbeiteten, erkennen ließ. Der Künstler wollte sich aus Überzeugung nicht den allgemeinen modernen Trends überlassen, sondern mied sie, als wären sie Minenfelder.“
Nachdem er den Dortmunder Künstlerbund verlassen hat, schließt sich Carl Baumann dem Hagenring an. Er ist dort über Jahre die zentrale Figur und bildet zusammen mit Helwig Pütter und Horst Becking von 1967 bis 1973 den Vorstand. Dann aber verlässt er die Künstlervereinigung wieder. Vieles passt ihm nicht. Der Individualist in ihm will nicht weiter „vereinsmeiern“.
In den 70er Jahren kommt es offenbar zu einer anderen inneren Ausrichtung. Jetzt will er die Verletzungen der Vergangenheit ausblenden. Er sagt: „In meinen Bildern will ich keine Hässlichkeit. Ich will nur Schönheit, Harmonie, keine Problematik. Ich male keine Probleme. Ich gehe den Gesetzen der Malerei nach, versuche sie aufzuspüren.“ Oder: „Meine Motive sind sicher keine Proteste. In einer Welt des Elends und der Missverständnisse möchte ich ein Stück Frieden schaffen.“ [45} Fünf Jahre vorher hatte er noch gefordert, dass der Künstler sich in und mit dieser Welt auseinandersetzen müsse und kein durch seine Begabung entrücktes Wesen sei.
Carl Baumann ist nach wie vor in sich gekehrt, er spricht mit ruhiger leiser Stimme. Ein Gegensatz zu seiner hoch gewachsenen, für viele eindrucksvollen Erscheinung. Die Eindrücke der Wirklichkeit verarbeitet er in einem fast grüblerischen Prozess. Er ist ein guter Beobachter, und mag er jemanden oder ihm ist danach zumute, dann zeigt er auch eine andere Seite seines Wesens. Wenn er sich in einer Runde wohlfühlt, eine, in der keine „Schwätzer“ oder „Wichtigtuer“ sitzen, dann kommt auch schon mal der gute Erzähler zum Vorschein, der seine Ausführungen mit gekonnter komischer Gestik unterstützt. Zu diesen „Dönekes“ gehört die Geschichte vom kleinen Carl, dem sein Vater bei den ersten Malversuchen über die Schulter schaut, ihm den Pinsel aus der Hand nimmt und mit den Worten „Eine Wolke malt man so“ einen Strich und darüber drei kleine Bogen aufs Papier zeichnet.
Carl Baumann bleibt als Person für viele, die auf ihn treffen, ein Rätsel. Mal ist er so schweigsam und introvertiert, dass es fast abweisend wirkt, dann wieder ist er deutlich lebensfroh mit einem lustigen Augenzwinkern. Und wenn ihn ein Mensch wirklich interessiert, fragt er nach. Er selbst ist auch seiner Seele auf der Spur. Künstlerisch zeigen das seine „Telefongespräche“ genauso deutlich wie seine Selbstporträts. Er will sich selbst erfahren und den Dingen auf den Grund gehen. In den 60er und 70er Jahren finden sich immer wieder Arbeiten, die deutlich machen, wie sehr Baumann als Künstler auf der Suche ist. Er experimentiert mit Materialien und Farben. „Seine symbolhaften Collagen wie seine ,Gemälde‘, für die er eigenwillige Materialien wie Asphalt, Teer und Sand benutzte, verraten den Könner. Er ist in dieser Hinsicht ein Pionier der ausgefallenen Techniken und vielen anderen voraus.“ [46]
Der Maler Baumann ist bekannt dafür, dass er zuweilen ein schon fertiges Bild wieder übermalt und neu malt. Es muss ihm hundertprozentig gefallen. „Einmal habe ich das Bild achtmal übermalt und wieder von Neuem angefangen. Dann ist ein Strich falsch, und die ganze Komposition fällt zusammen. Aber nichts wiederholt sich. Alles ist Aufbau. Kunst ist etwas Schönes, aber auch etwas Grausiges, Höhen und Tiefen. Beides ist notwendig.“
Grausig ist es für ihn auch, ein Bild nach den Vorstellungen eines anderen zu malen, wie Ulrike Claas im Gespräch mit der Autorin beschreibt:
„Mein Vater war ein manischer Münsterland-Liebhaber und hätte nur zu gern ein Münsterland-Bild von Carl Baumann an der Wand gehabt. CB sträubte sich jedoch. Er schien eine tiefe Abneigung gegen jede Art der Einengung zu haben. Den Konflikt zwischen dem Verständnis für den Wunsch meines Vaters und seiner Abneigung gegen das erwartete Motiv löste er nach langem Zögern im Namen der Freundschaft und präsentierte meinem Vater schließlich ein Bild mit einem im Grünen stehenden münsterländischen Bauernhaus mit Ziegelfachwerk. Mein Vater war begeistert, kaufte das Bild und räumte ihm einen Ehrenplatz in unserer lichtdurchfluteten Diele ein. In den folgenden Monaten passierte CB das Bild, das er notwendigerweise bei jedem Gang von und zu unserer Haustür zu Gesicht bekam, immer mit kritischem Blick. Ich erinnere mich, ihn einmal mit leicht schief gelegtem Kopf und einem halb zugekniffenen Auge – klassische Malerhaltung so zu sagen – angetroffen zu haben. Mir schwante Böses. Wenig später teilte mir mein Vater telefonisch mit, dass CB ihn gebeten habe, das Bild noch einmal mit ins Atelier nehmen zu dürfen, ‚weil er etwas ändern müsse‘. Wobei mein Vater kommentierte, es habe sich eigentlich weniger um eine Bitte, als um eine Anordnung gehandelt. Als mein Vater nach vielen Wochen des Stillschweigens über das Thema schließlich bangen Herzens CB nach dem Fortschritt der Änderung fragte, antwortete CB ,das hab ich übermalt‘.“
Für Carl Baumann ist in seiner Arbeit ein Wort des von ihm so geschätzten Vincent van Gogh maßgebend: „Ich glaube, es ist besser, mit dem Messer einen missglückten Teil wieder fortzunehmen und wieder von vorne anzufangen, als immer wieder darauf zurückzukommen.“
Es gibt aber auch Situationen, in denen er über seinen Schatten springt, sei es aus Freundschaft oder aus anderen Motiven. „Als mein Vater den Waldfriedhof Loxbaum baute, hatte er auch für CB einen Auftrag eingebaut. Er bat ihn, das Fenster in der Trauerhalle zu gestalten. CB behandelte den Auftrag fast als Gefälligkeit, die es aus rein künstlerischer Hinsicht ja auch war, und er war verständlicherweise uninspiriert. Mein Vater wurde etwas nervös, weil man nicht eine Trauerhalle ohne Fenster einweihen kann und kam schließlich auf die Idee mit dem Tränenkreuz, die CB übernahm. Das Fenster ist noch an Ort und Stelle, und ich denke oft, dass es eines wirklichen Künstlers bedarf, etwas so Schönes gegen seinen Willen schaffen zu können.“ (Ulrike Claas)
Baumann macht in all den Jahren verschiedene Reisen – in die Sowjetunion, in die Bretagne, nach Madeira und hält seine Eindrücke malerisch und zeichnerisch fest. Auch die Veränderungen rund um seine Heimatstadt Hagen beobachtete er genau und bannte sie auf die Leinwand. Ein Bild ist für ihn dann gelungen, wenn seine Empfindung und seine Wahrnehmung der Situation fühl- und erlebbar werden. „Das Summen der Bienen, die Tageshitze, all das soll man spüren“, sagt er.
Sein Lehrer Franz Lenk hat die Herausforderung des künstlerischen Umsetzens von Wirklichkeit so formuliert: „Ich habe einsehen müssen, dass man einem schlafenden Schwein, wenn man es malen will, nicht mit Kunsttheorie beikommen kann. Es stinkt im Schweinestall, Fliegen stechen, die Luft ist dick. Das Schwein aber liegt da und schnarcht und grunzt. Das ist alles so wundervoll echt, was soll da Theorie!“ [47]
Die Themen der Tafelbilder Baumanns sind vielfältig. Immerzu ringt er um die Aussagekraft, und die Hauptthemen beschäftigen ihn monate-, oft jahrelang. So malt er nicht abreißende Reihen von Stillleben, Blumensträuße von unerhörter Leuchtkraft, Serien von Segelschiffen, Fischerboote und zunehmend vergehende Häuser und Höfe in der heimatlichen Umgebung.
Carl Baumann geht ungern in Ausstellungen und redet nur sehr selten und immer sehr verhalten über Kunst, als sei sie ein ganz zartes Pflänzchen. „Der einzige Maler, der über die Jahrzehnte unaufgefordert sein vollstes Lob erhielt, war Rembrandt van Rijn, und ich habe mich oft gefragt, ob Baumann nicht die Mischung aus Überlagerung pastoser Schichten und reliefierten Malflächen von Rembrandt abgeleitet hat“, erinnert sich Ulrike Claas im Gespräch mit der Autorin.
Eingehüllt in eine Wolke von Zigarettenqualm arbeitet Carl Baumann konzentriert in seinem Atelier in der Steubenstraße. Jahrelang ist er Kettenraucher bis eine drohende Beinamputation ihn abrupt zum Nichtraucher macht. Punkt zwölf erscheint er täglich in der Küche, sagt „Mahlzeit“, setzt sich zu seiner Frau Ilse und den Schwiegereltern, um nach dem wortlosen Essen mit einem weiteren „Mahlzeit“ die Küche Richtung Atelier wieder zu verlassen. Er macht nicht gerne viel Worte. Auch nicht bei offiziellen Anlässen. Umtriebigkeit und Selbstdarstellung liegen ihm nicht, und er windet sich in Krämpfen, wenn er auf einer Ausstellung ein paar Worte zu seinen Bildern sagen soll. Die Präsentation seiner Bilder ist ihm unangenehm.
In dieser Hinsicht ist er wohl Max Beckmann seelenverwandt. Der bringt es für sich so auf den Punkt: „Meine Form ist die Malerei, und ich bin recht zufrieden damit, denn ich bin eigentlich von Natur mundfaul. Heute, wo ich oft mit Erstaunen redebegabte Maler beobachten kann, ist es mir ja manchmal etwas schwül geworden, dass mein armer Mund so gar nicht den inneren Enthusiasmus und die brennenden Passionen zu den Dingen der sichtbaren Welt in schöne und schwungvolle Worte fassen kann. Aber schließlich habe ich mich darüber beruhigt und bin nun eigentlich ganz zufrieden, indem ich mir eben sage, du bist ein Maler, tue dein Handwerk und lasse reden, wer reden kann. Ich glaube, dass ich gerade die Malerei so liebe, weil sie einen zwingt, sachlich zu sein.“ [48]
Verkaufsverhandlungen überlässt er, wenn es eben geht, seiner Frau. Er hasst es, seine Bilder wie eine Ware anpreisen zu müssen und möglichen Käufern um den Bart zu gehen. Der Hagener Künstler Erwin Hegemann bemüht sich über Jahrzehnte, Carl Baumann zu Ausstellungen zu bewegen, weil er von der großen Qualität seiner Kunst überzeugt ist. Bei der dann tatsächlich stattfindenden Ausstellung in Hohenlimburg zeigt Carl Baumann einige Aquarelle, die er von einer Reise aus Madeira mitgebracht hat. Sie sind innerhalb einer halben Stunde ausverkauft. Ansonsten aber hat er entgegen dem Anraten von Hegemann und anderen schweres Geschütz aufgefahren, etwa die „Telefongespräche“, die nicht gerade dem gängigen Geschmack entsprechen und keine Käufer finden. Es ist ihm egal.
Das Bild „Rote Kapelle Berlin“ hängt jahrzehntelang in der Steubenstraße im Treppenhaus. Jeden Tag geht er daran vorbei, es gehört zu seinem Leben, es ist ihm wichtig. 1969 zeigt er es zum ersten Mal auf einer Ausstellung. Aber er hält sich mit Erklärungen zurück. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie diese Widerstandsorganisation nach dem Krieg in der Bundesrepublik diffamiert wird.
So erscheint 1969 eine Serie im „Spiegel“ mit dem Titel „PTX ruft Moskau – Die Geschichte des Spionagerings Rote Kapelle“. Ein Foto zeigt Gräber deutscher Soldaten an der Ostfront und die Unterzeile lautet: „Hunderttausend Soldaten von der Roten Kapelle verraten?“ Schon 1951 gibt es im „Stern“ eine große Serie über die Rote Kapelle mit folgenden Einleitungsworten: „Der Landesverräter, der mit dem Feind konspiriert, ist in allen Ländern der Welt, in allen Armeen und unter allen politischen Systemen noch immer als ein Lump angesehen worden.“ [49] Das sind schwere Vorwürfe, und sie lassen erahnen, warum sich Carl Baumann über seine Kontakte zur Roten Kapelle in Schweigen hüllt. Überlebende Angehörige der „Roten Kapelle“ werden noch bis in die 1970er Jahre hinein beobachtet und abgehört.
Rainer Küchenmeister im Gespräch mit der Autorin im Februar 2010: „Man redete nicht über ‚Rote Kapelle‘, ich wurde nach dem Krieg noch deswegen verfolgt, natürlich hat der Carl darüber nicht geredet.“
Unbescholten weiterleben dürfen dagegen die Täter. Wie der ehemalige Generalrichter Manfred Roeder (1900—1971). Er ist verantwortlich für die Todesurteile gegen die Mitglieder der „Roten Kapelle“. Bis zu seinem Tode trägt ihn die Überzeugung, im Fall „Rote Kapelle“ seine Sache gut gemacht zu haben. In Glashütten im Taunus lebt Roeder bis zu seinem Tode als angesehener Bürger, seine Mitbürger wählen ihn zum Mitglied des Gemeinderates, Gemeindevorstand und zum Ersten Beigeordneten. Seinen Lebensunterhalt verdient er weiterhin als Jurist. Selbst im Telefonbuch lässt er sich bis zuletzt als „Generalrichter a. D.“ führen. Am 15. September 1945 erstattet Adolf Grimme Anzeige gegen Manfred Roeder wegen Beteiligung an den Urteilen gegen 49 Mitglieder der „Roten Kapelle“ sowie Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi u.v.a. Das Verfahren wird jedoch eingestellt.
Erst in den 90er Jahren wird die Gruppe als das gesehen, was sie war: „Die ‚Rote Kapelle‘ hat in der Form, wie die Gestapo sie darstellte, nie existiert. Sie war weder eine von Moskau gesteuerte Spionageorganisation noch eine kommunistisch geführte Widerstandsgruppe. Nicht nur Künstler und Intellektuelle, sondern auch Arbeiter, Angestellte, Soldaten, Offiziere, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, Hitler-Gegner mit unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Positionen bildeten in kleinen Kreisen einen lockeren Zusammenhalt, redeten und feierten miteinander, tauschten Informationen aus, halfen sich gegenseitig, unterstützten Verfolgte und Bedrängte. Einige erarbeiteten und verbreiteten Flugblätter, wandten sich mit Aktionen an eine kleine Öffentlichkeit, wollten Zeichen setzen und zeigen, dass es doch noch aktive Gegner des NS-Regimes gab.“ [50]
Nach vielen Debatten wird die „Rote Kapelle“ in die Ständige Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin aufgenommen und damit angemessen gewürdigt. Peter Weiss hat den mutigen Frauen und Männern in seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ ein literarisches Denkmal gesetzt.
Das Bild die „Rote Kapelle Berlin“ von Carl Baumann ist ein außergewöhnliches Zeitzeugnis, weil es das einzige Gemälde ist, das den deutschen Widerstand thematisiert. Auch deshalb hatte das Westfälische Landesmuseum in Münster ein großes Interesse, es Anfang der 90er Jahre zu erwerben. Doch der Verkauf des Bildes gestaltet sich äußerst schwierig.
Ulrike Claas im Gespräch mit der Autorin: „Als sich das Westfälische Landesmuseum in Münster für das Bild interessierte, sprangen Herr Böhme und mein Vater ein, weil CB sich bis an die Grenzen der Unhöflichkeit zierte. Dann forderte er eine Summe und die Zusicherung, dass das Bild Teil der Dauerausstellung werde und nicht etwa im Magazin verschwinde. Die Herren stimmten zu. Als sie dann aber kamen, um das Bild abzuholen, verlangte CB einen höheren Preis, und es entstand eine peinliche Situation, die dann aber gelöst wurde. Wir haben CBs Verhalten damals alle nicht verstanden, ich habe mich aber nachher gefragt, ob er sich überhaupt von dem Bild trennen wollte. So sehr ihn der Kaufwunsch des Museums auch gefreut hat, es ist ihm sicher nicht leicht gefallen, das Bild zu verkaufen.“
Baumann ist in seinem künstlerischen Schaffen keinen gradlinigen, für den Betrachter zielgerichteten Weg gegangen. Aber ist das Ringen um einen Weg, um sich, um seinen Standort in der Welt nicht auch eine künstlerische Form? Ein Schaffenssinn? Eine Haltung zum Leben? Wie hat es Tschechow gesagt: „Ich bin kein Liberaler, kein Konservativer, kein Reformanhänger, kein Mönch, kein Indifferenter. Ich möchte ein freier Künstler sein und nichts weiter.“
Carl Baumann hört nie auf zu malen. Noch in seinem letzten Lebensjahr arbeitet er fast wie besessen. Neben vielen Blumenbildern malt er auch ein kleines abstraktes, das wie ein Blick auf die Welt wirkt. Es strahlt Ruhe, Frieden und Harmonie aus. Mit einem leuchtenden, strahlenden Blau. Carl Baumann bewahrt nicht viele persönliche Dinge auf. Doch in einer Schublade in seinem Atelier findet sich eine sorgfältig ausgeschnittene Todesanzeige. Es ist die von August Müller-Lamberty von 1989.
Sieben Jahre nach seinem Entdecker, im Juli 1996, ist Carl Baumann in Hagen gestorben.
Anmerkungen:
- Archiv Universität der Künste, Berlin
- Archiv Universität der Künste, Berlin
- Christine Fischer-Defoy, Kunst, Macht, Politik, Berlin 1987, S. 69
- Ebd., S. 70
- Ebd., S. 70
- Ebd., S. 136
- Ebd.
- Ebd., S. 98
- Ebd., S. 82
- Ebd., S. 113
- Ebd., S. 142
- Ebd., S. 133
- Archiv Universität der Künste Berlin
- Kunst, Macht, Politik, a.a.O., S. 321f
- Ebd., S. 141
- W. Tank, erschienen im Eigenverlag 1964
- Universität der Künste, Berlin
- Kunst, Macht, Politik, a.a.O., S. 202f
- Dr. Siegfried Kessemeier, in: Kunstwerk des Monats, 1991, Westfälisches Landesmuseum Münster
- Elfriede Paul, Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle, Berlin (DDR) 1981, S. 165ff
- Kunst, Macht, Politik, a.a.O. S. 182
- Archiv Deutsches Historisches Museum Berlin
- Elfriede Paul, a.a.O., S. 165ff
- Stefan Roloff, Die Rote Kapelle, München 2002, S. 82
Ebd., S. 82 - Kunst, Macht, Politik, a.a.O., S. 183
- Me-ti/Buch der Wendungen, Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt 1967, S. 553
- Stefan Roloff, a.a.O., S. 36f
- Archiv Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
- Stefan Roloff, a.a.O., S. 46
- Ebd., S. 159
- Stefan Roloff, a.a.O., S. 237
- Ebd. S. 198
- Ebd., S. 201 u. S. 275
- Eike Grevel und Werner Richwin, Lukaskirche Altenbochum, S. 26
- HagenKunst, Hagen 2006, S. 49
- Westfalenpost, 12.2.1964
- Otto Dix. Ich folge lieber meinem Dämon:Originalaufnahmen, Pforzheim 2009
- Carl Baumann anlässlich seines 80. Geburtstages im Gespräch mit Hubertus Heiser, Westfalenpost, 5.11.1992
- WDR
- Otto Modersohn, Tagebuch 1897, in: Otto Modersohn, Monographie einer Landschaft, Ausst.Kat. Otto Modersohn-Nachlaß-Museum in Fischerhude, Hamburg 1978, S. 347
- Ruhr-Nachrichten, 15.9.1965
- Westfalenpost, 5.10.1972
- Westfalenpost, 5.10.1972
- Die Zwanziger Jahre, Dumont Dokumente, Köln 1979, S. 286
- 1972 zum 60. anlässlich Ausstellung Hagenring, WP, Oktober 1972
- Westfälische Rundschau, 1965
- Die Zwanziger Jahre, Dumont Dokumente, a.a.O., S. 236
- Ebd., S. 112
- Stefan Roloff, a.a.O., S. 9f
- Ebd., S. 12f